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Pressegespräch zu den aktuellen Entwicklungen bei den Staatsschutzsenaten des Oberlandesgerichts Stuttgart

Datum: 19.04.2024

Pressegespräch zu den aktuellen Entwicklungen bei den Staatsschutzsenaten des Oberlandesgerichts Stuttgart


Inland rückt stärker in den Fokus



Präsident des Oberlandesgerichts Dr. Singer: „Die Staatsschutzsenate setzen unsere Rechtsordnung durch und verteidigen damit unsere Freiheit und unsere Grundrechte.“



Eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik kurz vor dem Auftakt




Das Inland rückt stärker in den Fokus der Stuttgarter Staatsschutzsenate. Von 2016 bis Ende 2020 waren die Staatsschutzsenate beim Oberlandesgericht Stuttgart schwerpunktmäßig mit Verfahren zum islamis­tischen Terror befasst, oft mit Bezügen zum syrischen Bürgerkrieg und den dort in die Kämpfe involvierten Gruppierungen, etwa dem Islamischen Staat, der al-Nusra-Front oder der Ahrar al-Scham. Darüber hinaus wurden zahlreiche Anklagen gegen Personen aus dem Umfeld der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK), der „Demokra­tischen Kräfte zur Befreiung Ruandas“ (FDLR), der „Tamilischen Befreiungstiger“ (LTTE) und anderer ausländischer terroristischer Vereinigungen verhandelt.

 

Zunehmend staatsfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft spiegeln sich in Staatsschutzverfahren wider

„Seit Ende 2020 nehmen Anklagen aus dem Bereich des Rechtsex­tremismus und gegen Reichsbürger spürbar zu“, berichtet der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart Dr. Andreas Singer. Allein im letzten Jahr haben die Stuttgarter Staatschutzsenate insgesamt zwölf Angeklagte zu lang­jährigen Freiheits­strafen verurteilt. Darunter waren die bundesweit beiden ersten Verfahren, in denen der Generalbundesanwalt wegen schwerer, aus ideologischer Überzeugung begangener Gewalttaten Anklage gegen jeweils einen „Reichsbürger“ vor einem Staatsschutzsenat erhoben hat:

 

  • Am 24. März 2023 verurteilte der 2. Strafsenat (2 – 2 StE 15/22) einen damals 63-jährigen Anhänger der Reichsbürgerbewegung u.a. wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren. Das Urteil ist seit 13. Dezember 2023 rechtskräftig. Entsprechend seiner Gesinnung, nach der die Gesetze der Bundesrepublik Deutsch­land für ihn nicht gelten, hatte sich der Verurteilte im Februar 2022 bei einer Trunkenheitsfahrt im südbadischen Landkreis Lörrach mehreren Polizeikon­trollen entzogen. Schließlich fuhr er bei einem polizeilichen Anhalteversuch mit seinem PKW einen ihm zu Fuß entgegenkommenden Polizeibeamten unter Billigung dessen Todes gezielt an und setzte seine Flucht fort. Er fügte dem Geschädigten auf diese Weise schwere Kopfverletzungen zu, die zu einer andauernden Dienstunfähigkeit führten. Der Angeklagte handelte in der Vorstellung, er könne sich das von ihm frei erfundene "Recht" nehmen, Polizisten töten zu dürfen. Der Senat hat – durch den Bundesgerichtshof bestätigt – das Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ bejaht, weil der Verurteilte seine politische Überzeugung um jeden Preis gewaltsam durchzusetzen versuchte.

 

  • Am 15. November 2023 verurteilte der 7. Strafsenat (7 – 2 StE 17/22) einen damals 55-jährigen Mann u.a. wegen mehrfachen versuchten Mordes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren und 6 Monaten; zudem blieb die Sicherungs­verwahrung vorbehalten. Das Urteil ist bislang nicht rechtskräftig. Nach den Feststellungen des Senats war der Angeklagte Anhänger der Reichsbürger­bewegung. Er verfügte über zahlreiche Schusswaffen mit zugehöriger Munition, darunter die spätere Tatwaffe, ein Sturmgewehr des Typs Zastava M70. Wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz sollte am 20. April 2022 die Wohnung des Angeklagten in Boxberg-Bobstadt polizeilich durchsucht werden. Da dieser die Beamten als Funktionsträger des von ihm abgelehnten Staatswesens betrachtete, entschloss er sich, diese um jeden Preis vom Grundstück zu vertreiben. Aus seiner staatsfeindlichen Gesinnung heraus feuerte er aus seiner Wohnung insgesamt 45 Schüsse auf die Polizeibeamten ab. Unter anderem wurde ein SEK-Beamter von mehreren Geschossteilen getroffen und verletzt.

 

  • Am 30. November 2023 verurteilte der 5. Strafsenat (5 – 2 StE 7/20) zehn Angeklagte u.a. wegen ihrer Beteiligung an einer rechtsterro­ristischen Vereinigung, der sogenannten Gruppe S., zu Freiheitsstrafen bis zu 6 Jahren. Das Urteil wird von acht Angeklagten mit der Revision angefochten. Nach den Feststellungen des Senats standen die Angeklagten – die teilweise in bürgerwehrähnlichen Gruppierungen organisiert waren - Flüchtlingen, insbesondere dunkel­häutigen Menschen und Muslimen, feindselig gegenüber und waren der Auffassung, dass die Ausbreitung des Islam in Deutschland gestoppt werden müsse. Bei einem Treffen am 8. Februar 2020 in Minden beschloss ein Teil der Angeklagten, mit Schusswaffen Anschläge auf mehrere Moscheen zu begehen, um letztlich einen Bürgerkrieg in Deutschland auszu­lösen. Weitere Angeklagte billigten diese Ziel­setzung. Es wurde konkret vereinbart, für die Anschläge Schusswaffen mit von den Anwesenden zugesagten Geldern zu beschaffen. Bei einem weiteren Treffen nach der Waffenbeschaffung sollten konkrete Anschlagsziele ausgemacht werden. Bei den Angeklagten konnten zahlreiche Waffen sichergestellt werden.

 

Präsident Singer ist überzeugt: „Diese Straftaten sind Folge einer besorgniserregenden gesellschaftlichen Entwick­lung der Spaltung und Polarisierung. Der Rechtsstaat wird von einem wachsenden Teil der Bevölkerung in Frage gestellt oder gar offen angefeindet.“

 

Anhänger der Reichsbürger-Ideologie sind zunehmende Bedrohung für die freiheitlich demokratische Grundordnung

Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz waren Ende 2022 deutschlandweit etwa 23.000 Personen der Reichsbürger-Szene zuzurechnen. Die Zahl der Anhänger steigt seit Jahren deutlich (2021: 21.000 Personen). Nach der Definition des Bundes­ministeriums des Innern und für Heimat eint „Reichsbürger“ – bei aller ideo­logischen und organisatorischen Heterogenität –, dass sie die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihr Rechtssystem ablehnen. Mittlerweile nimmt der Verfassungs­schutz ein bundesweites Potential von etwa 2.300 gewaltbereiten Personen an, von denen sich viele im Besitz schwerer Waffen befinden. „Hieraus ergibt sich eine reale, seit Jahren wach­sende Bedrohungs­lage, die in unseren Gerichtssälen angekommen ist. Diese Entwicklung muss man sehr ernst nehmen“, fordert Singer. „Dass Reichsbürger Polizisten als Repräsentanten unseres Rechtsstaates gezielt töten wollen, muss uns alarmieren. Jeder Angriff auf einen Polizisten ist ein Angriff auf unsere Demokratie und damit auf jeden von uns.“

 

Zentrale Rolle der Staatsschutzsenate

„Angesichts dieser Entwicklungen kommt unseren Staatsschutzsenaten eine zentrale Rolle zu. Das Staatsschutzstrafrecht dient dem Bestand und dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Wir sind deshalb sehr dankbar, dass mit dem Doppelhaus­halt 2023/2024 in Baden-Württemberg fünf zusätzliche Richterstellen für den Staatsschutz geschaffen wurden“, betont Singer. Am Oberlandesgericht Stuttgart wurde damit bereits im letzten Jahr ein weiterer Staatsschutzsenat eingerichtet. „Die Staatsschutzsenate arbeiten die Tatvorwürfe in rechtsstaatlichen Verfahren unabhängig, unvoreingenommen und gründlich auf. Auch von offenen Anfeindungen unbeirrt setzen sie die Rechtsordnung durch und verteidigen damit unsere Freiheit und unsere Grundrechte“, stellt Präsident Singer heraus.

 

Beweisaufnahme zu Organisationsdelikten ist besondere Herausforderung

Die Ursachen, warum Staatsschutzverfahren aufwändig und langwierig sein können, sind vielfältig. Im Zentrum der Beweisaufnahme stehen zumeist Organisationsdelikte wie die Bildung einer terroristischen Vereinigung, die auf die Begehung schwerster Straftaten wie Mord und Totschlag gerichtet ist. Aufgrund der davon ausgehenden erheblichen Gefahr setzt die Strafbarkeit bereits im Vorfeld terroristischer Anschläge und Umsturzversuche an. Diese Vorverlagerung bedingt, dass die Staatsschutzsenate nicht nur die Vereinigung als solche aufklären und feststellen müssen, sondern auch deren Entstehung, Organisationsgrad, Struktur und Ziele sowie die internen Willensbildungsprozesse. Die regelmäßig hochkomplexen Sachverhalte erstrecken sich dabei nicht selten über lange Zeiträume, liegen häufig Jahre zurück und betreffen mitunter Vorgänge im Ausland. Die Erkenntnisse zu den meist konspirativ tätigen Organisationen beruhen in großem Umfang auf verdeckten Ermittlungsmaßnahmen. Aufgrund der in Strafverfahren geltenden Grundsätze der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit erfolgt die richterliche Überzeugungsbildung nicht anhand der Ermittlungsakten, sondern aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung. Die Staatsschutzsenate müssen daher über alle für den Schuldspruch relevanten Erkenntnisse in der Hauptverhandlung vollständig Beweis erheben.

 

Neues Verfahren gegen neun mutmaßliche Mitglieder einer inländischen Terrorgruppe ist eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik

Am 29. April 2024 beginnt vor dem Oberlandesgericht Stuttgart die Hauptverhandlung gegen neun Angeklagte unter anderem wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens (Aktenzeichen: 3 St 2 BJs 445/23-4).

 

Der Anklage zufolge habe die Ende Juli 2021 gegründete terroristische Vereinigung das Ziel gehabt, die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland mit Waffengewalt und unter Inkauf­nahme von Todesopfern zu beseitigen und durch eine eigene, bereits in Grundzügen ausgearbeitete Staatsform zu ersetzen. Die Angehörigen der Vereinigung habe eine tiefe Ablehnung der staatlichen Institutionen und der freiheitlich demokratischen Grundordnung verbunden. Sie seien einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen, unter anderem der Reichsbürgerszene gefolgt. Zur Durchsetzung ihrer Ziele seien bereits konkrete Vorbereitungen getroffen, insbesondere militärisches Personal rekrutiert, Feindeslisten angefertigt und ein massives Waffen­arsenal aufgebaut worden. Auch mit dem Aufbau eines deutschlandweiten Systems von insgesamt 286 militärisch organisierten „Heimatschutzkompanien“ sei bereits begonnen worden. Das Stuttgarter Verfahren richtet sich gegen mutmaßliche Mitglieder des „militärischen Arms“ dieser Vereinigung. Gegenstand der Anklage sind auch die zahlreichen Schüsse, die ein Angeklagter im März 2023 in Reutlingen bei der Durch­suchung seiner Wohnung mit einem halbautomatischen Schnellfeuergewehr auf Polizisten abgegeben und dadurch zwei Beamte verletzt haben soll.

 

Der Anklage des Generalbundesanwalts liegt ein außergewöhnlich umfangreiches Ermittlungs­verfahren zugrunde. Die Ermittlungsakten umfassen 700 Stehordner mit rund 400.000 Blatt. Allein die Anklage ist 600 Seiten lang. Zeitgleich mit der Anklage zum Oberlandesgericht Stuttgart wurden bei den Oberlandesgerichten Frankfurt a.M. und München weitere 18 Personen angeklagt.

 

Der Präsident des Oberlandesgerichts Dr. Singer erläutert dazu: „Es handelt sich um eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass sich drei Oberlandesgerichte in parallel zu führenden Hauptverhandlungen mit derselben, bislang nicht gerichtlich festgestellten, terroristischen Vereinigung befassen müssen, hat es so noch nie gegeben.“

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