Von der Errichtung des OLG Stuttgart 1879 bis 1933
Dem württembergischen Gerichtsverfassungsgesetz von 1868 war im Hinblick auf die Gründung des Deutschen Reichs 1871 nur eine
kurze Dauer beschieden. Eine einheitliche Gerichtsorganisation in allen Ländern war nach der Reichseinheit freilich noch nicht
selbstverständlich. Nach Art. 4 Nr. 13 der Reichsverfassung von 1871 erstreckte sich die Kompetenz des Reichs zur Gesetzgebung im
Bereich des Rechtswesens zunächst auf das „Obligationenrecht, Strafrecht, Handels- und Wechselrecht und das gerichtliche
Verfahren“, also noch nicht auf die Gerichtsorganisation. Politischen Bestrebungen, die Kompetenz des Reichs auf das gesamte
Bürgerliche Recht und die Gerichtsverfassung auszudehnen, wurde zum Durchbruch verholfen, nachdem sich Baden im Jahr 1872 und dann im
Jahr 1873 auch der württembergische Justizminister v. Mittnacht nach einem befürwortenden Gutachten des Obertribunals Stuttgart
für die Änderungen aussprachen, denen der Reichstag im Dezember 1873 zustimmte. Auf dieser Grundlage wurden nach langen
Vorarbeiten und politischen Diskussionen im Jahr 1877 die Reichsjustizgesetze verabschiedet, die einheitlich am 1. Oktober 1879 in Kraft
traten. Es handelt sich um das Gerichtsverfassungsgesetz, die Zivilprozessordnung, die Strafprozessordnung, die Konkursordnung, die
Rechtsanwaltsordnung und die Rechtsanwaltsgebührenordnung, wie wir sie im Wesentlichen, wenn auch mit zahlreichen Änderungen oder
unter anderen Bezeichnungen, heute noch kennen.
Das hier interessierende Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
führte den heute noch bestehenden viergliedrigen Gerichtsaufbau ein. Als Eingangsinstanzen waren Amts- und Landgerichte vorgesehen,
als oberste Instanz in den Ländern die Oberlandesgerichte (§§ 12, 115 ff GVG). Darüber stand als oberster
Gerichtshof des Reichs das Reichsgericht (bis 1945).
In Württemberg wurde diese Vorgabe des Reichs umgesetzt durch das Ausführungsgesetz zum Reichsgerichtsverfassungsgesetz vom 24.
Januar 1879. Es bestimmte, dass an die Stelle des Obertribunals das Oberlandesgericht treten sollte. In einer Königlichen Verordnung
vom 15. Mai 1879 wurde Stuttgart als Sitz bestimmt. Bereits seit 1875 war in Erwartung der bevorstehenden reichseinheitlichen
Gerichtsverfassung ein neues Justizgebäude in der Urbanstraße in Stuttgart geplant und gebaut worden (siehe Baugeschichte). So
konnte das Oberlandesgericht pünktlich zum 1. Oktober 1879 die neuen Räume im Zweiten Obergeschoss des Justizgebäudes
beziehen. Beim Oberlandesgericht wurden zwei Zivilsenate und ein Strafsenat eingerichtet. Es hatte einen Präsidenten, einen
Vizepräsidenten, zwei Senatspräsidenten und 12 Räte. Der Bezirk des OLG Stuttgart umfasste die württembergischen
Landgerichtsbezirke Ellwangen, Hall, Heilbronn, Ravensburg, Rottweil, Stuttgart, Tübingen und Ulm.
Die hohenzollerischen Lande gehörten weiterhin zu Preußen, das Landgericht Hechingen unterstand deshalb dem OLG Frankfurt (siehe
Teil 3 zum Obertribunal). Erst 1923 wurde dieser Bezirk aufgrund eines
Gerichts-Gemeinschaftsvertrags zwischen Preußen und Württemberg dem OLG Stuttgart zugeordnet.
In den folgenden Jahren trug das OLG Stuttgart zusammen mit den Gerichten der anderen deutschen Länder nicht nur mit seiner
Rechtsprechung zur Rechtsvereinheitlichung in Deutschland bei. An den Vorarbeiten zu dem am 1.1.1900 in Kraft getretenen Bürgerlichen Gesetzbuch war auch
der erste Vizepräsident des OLG Stuttgart Franz v. Kübel (1819 – 1884) maßgeblich beteiligt, der den ersten Entwurf
zum Schuldrecht formulierte.
In den unruhigen Jahren der Weimarer Republik kam es zu verschiedenen Änderungen der Gerichtsverfassung, u.a. wurde im Zug der sog.
Emmingerschen Reform 1924 (bekannt v.a. durch die Abschaffung der Schwurgerichte bei den Landgerichten) die Besetzung der Senate beim
Oberlandesgericht von 5 auf 3 Richter reduziert, wie sie im Grundsatz heute noch gilt. Politischen Überlegungen, die Justiz ganz aus
der Zuständigkeit der Länder in eine einheitliche Reichsgerichtsbarkeit zu überführen, konnte der Stuttgarter
OLG-Präsident im Jahre 1929, dem Jahr des 50-jährigen Jubliäums der Reichsjustizgesetze und des OLG Stuttgart, noch
entgegentreten.
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