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Oberlandesgericht Stuttgart beschließt Vorlage an den Bundesgerichtshof zur Entscheidung über die Fortdauer einer Sicherungsverwahrung

Datum: 01.09.2010

Kurzbeschreibung: 

 

Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat mit Beschluss vom 19. August 2010 im Verfahren über den Antrag eines Verurteilten auf Freilassung aus der Sicherungsverwahrung die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.
Der BGH soll klären, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 deutsche Gerichte dazu zwingt, in sogenannten Zehnjahresfällen, in denen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wegen vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualstraftaten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.01.1998 begangener Anlasstaten angeordnet worden ist, die Unterbringung für erledigt zu erklären.
In dieser Sache hat das Oberlandesgericht bereits durch Beschluss vom 01.06.2010 den Antrag eines Verurteilten auf sofortige Freilassung aus der Sicherungsverwahrung zurückgewiesen (siehe Mitteilung vom 01.06.2010, www.olg-stuttgart.de).
Das Oberlandesgericht Stuttgart sieht sich nun an der jetzt anstehenden abschließenden Entscheidung über die Frage der Fortdauer der Sicherungsverwahrung gehindert, da es von der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte (Frankfurt am Main, Hamm, Karlsruhe und Schleswig) und möglicherweise des Bundesgerichtshofs abweichen würde. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts (im Ergebnis und in der Begründung ebenso: OLG Celle, Koblenz, Köln und Nürnberg) kann nämlich nach geltendem deutschen Recht - solange der Gesetzgeber keine abweichende Regelung trifft - die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung nicht für erledigt erklärt werden, selbst wenn die Fortdauer der Sicherungsverwahrung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 04.11.1950 widerspricht.
Das Oberlandesgericht ist davon überzeugt, dass die Gefahr besteht, dass der Beschwerdeführer, wenn er auf freien Fuß gesetzt wird, infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden. Dieser Gefahr könne auch nicht durch eine engmaschige Führungsaufsicht begegnet werden. Der Beschwerdeführer habe eine unverändert schwer gestörte Persönlichkeit, es liege eine psychopathische Persönlichkeitsstruktur vor, die durch exzessive Maßlosigkeit und gesteigerte Erregbarkeit, ein jedes normale Maß übersteigendes Geltungs- und Durchsetzungsbedürfnis sowie Umtriebigkeit und Unrast und das Bedürfnis gekennzeichnet sei, Überlegenheit zu demonstrieren, alles in seiner Umgebung zu kontrollieren und sich nicht an andere ausliefern zu müssen.
Die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der bereits 21 Jahre vollzogenen Sicherungsverwahrung müsse besonders eingehend geprüft werden. Diese Prüfung führe aber nicht zu dem Ergebnis, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers für erledigt erklärt werden kann und muss. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung sei nicht unverhältnismäßig. Solange sich der Beschwerdeführer allen eine Entlassung vorbereitenden und späteren Unterstützungsmaßnahmen verweigere, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er in Freiheit erhebliche Straftaten, namentlich Sexualverbrechen und andere Gewaltdelikte, begehen werde.
Grundlage der Gefahrenprognose war eine erneute und eingehende Gesamtwürdigung der Persönlichkeit, Taten, Entwicklung und Perspektiven des Beschwerdeführers. Dem Senat lagen mehrere ärztliche Gutachten, die Stellungnahme des Psychologischen Dienstes und der Leitung der Justizvollzugsanstalt vor.
Nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) in der Fassung des am 30.07.2010 in Kraft getretenen Vierten Gesetzes zur Änderung des GVG vom 24.07.2010 sei daher der Bundesgerichtshof zur Entscheidung der gestellten Rechtsfrage berufen.
Beschluss vom 19. August 2010
1 Ws 57/10

Anhang:
1.
Der Beschwerdeführer war mehrfach wegen schwerer Sexualdelikte zu jeweils mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. 1985 ordnete das Landgericht Stuttgart seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an, weil es eine hohe Wahrscheinlichkeit sah, dass der Beschwerdeführer in Freiheit weitere schwere Delikte begehen würde. Die damals geltende Höchstfrist für Sicherungsverwahrung betrug zehn Jahre. Für den Beschwerdeführer lief diese Frist im Oktober 1998 ab. Seit Januar 1998 ist Sicherungsverwahrung unbefristet möglich, was nach dem Willen des Gesetzgebers auch für Altfälle gelten sollte. Deshalb blieb der Beschwerdeführer auch nach 1998 und bis heute in Sicherungsverwahrung, weil er weiterhin als gefährlich eingeschätzt wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 in einem vergleichbaren Fall festgestellt, dass die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung aufgrund des 1998 geänderten Rechts mit dem deutschen Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem Urteil vom 17.12.2009 das Menschenrecht auf Freiheit und den Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (Artikel 5 und 7 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, MRK) als verletzt angesehen.

Das Landgericht Heilbronn hat am 19.03.2010 beschlossen, dass die Sicherungsverwahrung fortdauern soll. Dagegen hat der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde zum 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart eingelegt. Der Senat hat einen zusätzlichen Sachverständigen beauftragt, ein Gutachten zur heutigen Gefährlichkeit des Beschwerdeführers zu erstatten.

Am 12.05.2010 hat die Verteidigerin des Beschwerdeführers unter Hinweis auf das EGMR-Urteil vom 17.12.2009, das am 10.05.2010 rechtskräftig geworden ist, beantragt festzustellen, dass die Sicherungsverwahrung erledigt sei, und den Beschwerdeführer sofort aus der Unterbringung zu entlassen.

Diesen Antrag hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart mit Beschluss vom 01.06.2010 zurückgewiesen.

2. Zitierte Entscheidungen (Auszug):
A)
OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 01.07.2010- 3 Ws 539/10
OLG Hamm, Beschluss vom 06.07.2010- 4 Ws 157/10
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.07.2010- 2 Ws 458/09
OLG Schleswig, Beschluss vom 15.07.2010- 1 Ws 267/10 und 268/10
BGH, Beschluss vom 12.05.2010- 4 StR 577/09

B)
OLG Celle, Beschluss vom 25.05.2010- 2 WS 169 und 170/10
OLG Koblenz, Beschluss vom 07.06.2010- 1 Ws 108/10 und vom 22.06.2010- 1 WS 240/10
OLG Köln, Beschluss vom 14.07.2010- 2 Ws 431/10
OLG Nürnberg, Beschluss vom 24.06.2010- 1 Ws 315/10 und vom 01.07.2010- 3 Ws 539/10

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