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Jahrespressegespräch der Präsidentin des Oberlandesgerichts Stuttgart Cornelia Horz: „Die Belastung unserer Zivilsenate mit immer komplexeren Verfahren und Massenverfahren sehe ich mit großer Sorge.“

Datum: 05.07.2021

Kurzbeschreibung: 

Jahrespressegespräch der Präsidentin des Oberlandesgerichts Stuttgart Cornelia Horz: „Die Belastung unserer Zivilsenate mit immer komplexeren Verfahren und Massenverfahren sehe ich mit großer Sorge.“

Beim heutigen Jahrespressegespräch des Oberlandesgerichts Stuttgart blickte Präsidentin Cornelia Horz auf Entwicklungen des vergangenen Jahres zurück. Neben den Eingangszahlen in den Senaten berichtete sie von den Herausforderungen, die die Corona-Pandemie für die Gerichtsverwaltung mit sich brachte, und über einige Entscheidungen der Senate, die sich inhaltlich mit Folgen der Pandemie zu befassen hatten.

Die 19 Zivilsenate des Oberlandesgerichts hatten 2020 mit insgesamt 8.760 neuen Verfahren auch nach 2019 wieder einen absoluten Höchstwert zu verzeichnen. Im Jahr 2020 gingen 7.353 Berufungen bei den Senaten ein. Bereits 2019 gab es im Vergleich zu 2018 rund 135 % mehr Berufungsverfahren. Im Wesentlichen beruht diese Steigerung auf Verfahren in Folge des „Diesel-Abgas-Skandals“. In diesen Verfahren verklagen in der Regel Kfz-Käufer die Automobilhersteller oder –händler auf Schadensersatz, weil sie sich beim Vertragsabschluss betrogen fühlen, oder sie machen vertragliche Gewährleistungsansprüche geltend. Allein die damit zusammenhängenden Berufungsverfahren betrugen im Jahr 2020 4.816 und machten somit deutlich mehr als die Hälfte aller Neueingänge in Berufungsverfahren aus. Auf diese Steigerungen hat das Oberlandesgericht mittlerweile mit der Errichtung von zwei weiteren Senaten reagiert, eine spürbare Senkung des Bestands konnte dennoch nicht bewirkt werden, da die Neueingänge weit über dem liegen, was die Senate im Jahresdurchschnitt erledigen können. Auch für die nächste Zukunft sieht Präsidentin Horz keine Entspannung: „Aus der Zahl von 2.201 neuer Berufungen für das 1. Quartal 2021 kann man auf einen weiteren Höchststand von weit über 8.000 Berufungsneueingängen für das gesamte laufende Jahr hochrechnen.“

Mit Blick auf die auch sonst zu beobachtende Häufung von sogenannten „Massenverfahren“ sowie Großverfahren - beispielweise Schadensersatzklagen wegen eines LKW-Kartells oder das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Porsche Automobil Holding und die in vielen Bereichen immer komplexeren Verfahrensmaterien äußerte Präsidentin Horz ihre große Sorge, dass gerade in den Massenverfahren im Zusammenhang mit der Dieselabgasthematik nicht wie bisher zeitnahe Verhandlungstermine bestimmt werden können und damit  der eigene Anspruch der Richterinnen und Richter und die berechtigte Erwartung der Rechtssuchenden an eine nicht nur qualitativ hochwertige, sondern auch zeitlich angemessene Verfahrensbearbeitung und Erledigung nicht mehr in allen Fällen erfüllt werden kann. „So sehr wir personelle Verstärkung brauchen und dafür dankbar wären, bin ich überzeugt, dass allein immer mehr Personal die strukturellen Probleme, die hinter diesen Verfahren stehen, nicht lösen wird.“ Sie verwies auf verschiedenen Reformvorschläge, die mittlerweile vorliegen, wie z. B. die der jüngsten Justizministerkonferenz. „Es besteht wirklich dringender Handlungsbedarf“, so Cornelia Horz. „Reformen sollten möglichst schnell kommen, um die Prozessordnungen und Rechtsschutzmöglichkeiten an die sich ständig verändernde tatsächliche, wirtschaftliche und technische Umgebung anzupassen und zu optimieren“.

 

Bei dem Rückgang der Eingänge in den beiden anderen Abteilungen um ca. 5,5% auf 2.309 bei neuen Familiensachen und um etwa 10% auf 2.427 bei neuen Straf- und Bußgeldverfahren bleibe offen – so Präsidentin Horz -, ob sich darin ein Trend abzeichne oder ob sich die Veränderungen vor allem mit weniger Verhandlungen in den unteren Instanzen während der „Lockdown-Phasen“ erklären. Insgesamt führe die sehr unterschiedliche Entwicklung der Eingänge aber zu einer Unwucht in der Binnenstruktur des Gerichts, die sich auch nicht allein durch Umverteilungen sofort auflösen lasse und neben den Richterinnen und Richtern alle Arbeitsebenen, insbesondere auch die Servicekräfte auf den Geschäftsstellen herausfordere. Auch die Staatsschutzverfahren beanspruchten das Gericht immer noch in hohem Maße im Hinblick auf Personal und sonstige Ressourcen.

 

Bei den Sechs-Monats-Haftprüfungsverfahren, bei denen Beschuldigte in Untersuchungshaft sind und die Strafsenate die weitere Fortdauer der Haft zu prüfen haben, weil innerhalb von sechs Monaten nicht mit der Hauptverhandlung vor einem Amts- oder Landgericht begonnen werden kann, könne im Rückgang um ca. 18% auf 133 Verfahren im Jahr 2020 ein Erfolg der personellen Verstärkungen der Amts- und Landgerichte seit 2018 gesehen werden. Der Rückgang belege zudem, dass die Kolleginnen und Kollegen in den Eingangsinstanzen gerade Haftsachen auch in Zeiten des „Lockdowns“ sehr verantwortungsvoll und zügig behandelt haben.

 

 

 

 

 

 



Ergänzende Informationen zum Oberlandesgericht Stuttgart (Stand 6/2021):

 

Das Oberlandesgericht Stuttgart ist eines von 24 Oberlandesgerichten in Deutschland, gemessen an der Einwohnerzahl seines Bezirks (ca. 6,3 Millionen) das drittgrößte. Es ist - neben zahlreichen Sonderzuständigkeiten - sachlich als Berufungs- und Beschwerdeinstanz für Zivil- und Familiensachen sowie als Revisions- und Beschwerdeinstanz in Strafsachen zuständig. Im Staatsschutzstrafrecht, bei dem u. a. Anklagen wegen Spionage, Terrorismus und Kriegsverbrechen verhandelt werden, ist das Oberlandesgericht Stuttgart auch als erste Instanz für ganz Baden-Württemberg zuständig. Am Oberlandesgericht sind (Stand März 2021) 117 Richterinnen und Richter tätig, davon eine Präsidentin, eine Vizepräsidentin und 27 Vorsitzende. Insgesamt sind in der Gerichtsabteilung 187 Personen beschäftig ((Stand März 2021). Das Gericht hat sieben Strafsenate, 24 Zivilsenate (davon fünf Familiensenate), einen Senat für Landwirtschaftssachen, einen Kartellsenat, einen Senat für Baulandsachen, einen Senat für Notarsachen, einen Senat für Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen und einen Senat für Entschädigungs- und Wiedergutmachungssachen. Zudem sind der Anwaltsgerichtshof Baden-Württemberg und der Dienstgerichtshof für Richter beim Oberlandesgericht Stuttgart, die landesweit zuständig sind, diesem angegliedert.

 

Außerdem gehört zum Oberlandesgericht Stuttgart die Verwaltungsabteilung, die in der Justizverwaltung die Stellung einer Mittelbehörde einnimmt. Zu deren Zuständigkeitsbereich gehören neben dem Oberlandesgericht Stuttgart selbst acht Landgerichte, 56 Amtsgerichte, die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart und acht Staatsanwaltschaften. Hinsichtlich der Generalstaatsanwaltschaft und der Staatsanwaltschaften beschränkt sich die Zuständigkeit auf die Personalverwaltung (mit Ausnahme der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, für die das Justizministerium zuständig ist). Der zu verwaltende Personalbestand (Stand Juni 2021) beläuft sich auf ca. 1100 Beamtinnen und Beamte des gehobenen Justizdienstes (Rechtspfleger und Bezirksnotare), ca. 300 Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, ca. 800 Beamtinnen und Beamte des mittleren Justizdienstes (Justizfachwirte), ca. 350 Beamtinnen und Beamte des mittleren Justizwachtmeisterdienstes sowie ca. 2.050 Justizangestellte. Jährlich werden etwa 400 Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare und ca. 130 Anwärterinnen und Anwärter für die Laufbahnen des gehobenen Dienstes (Diplom-Rechtspfleger und Gerichtsvollzieher) sowie ca. 100 Justizfachangestellte ausgebildet. Das dafür zur Verfügung stehende Personalbudget beträgt pro Jahr ca. 212 Millionen Euro. Durch die Bewirtschaftung der Haushaltsmittel für die o.g. Gerichte wird eine weitere Grundlage für einen funktionsgerechten Geschäftsablauf geschaffen. So wirkt die Verwaltungsabteilung bei der Aufstellung des Haushaltsplans für das Land Baden-Württemberg mit, legt die Höhe der Budgets für die einzelnen Dienststellen fest (dezentrale Budgetverantwortung) und organisiert zentrale Beschaffungen. Zusammen mit dem Landesbetrieb Vermögen und Bau Baden-Württemberg sorgt sie weiter für eine sachgerechte Unterbringung der Behörden.

 

Seit 2014 ist das IuK (Informations- und Kommunikationstechnik)-Fachzentrum Justiz beim Oberlandesgericht in Stuttgart als eigene Abteilung angesiedelt. Es ging aus der „Gemeinsamen DV-Stelle Justiz“ hervor, welche bereits 1990 gegründet worden war und die Justiz-IT für die Ordentliche Gerichtsbarkeit und die Staatsanwaltschaften von Anfang an begleitet hatte. Das IuK-Fachzentrum Justiz ist als zentraler Ansprechpartner für sämtliche IT-Fragen sowie die Hard- und Softwareausstattung der gesamten Justiz in Baden-Württemberg und damit für die Gerichte, Staatsanwaltschaften, Zentralen Grundbuchämter und den Justizvollzug zuständig. Neben der Pflege der bisherigen Fachverfahren entwickeln im IuK-Fachzentrum Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Justiz eine zukunftsfähige IT-Landschaft, in welcher der elektronische Rechtsverkehr und die elektronische Akte zum Alltag gehören. Das IuK-Fachzentrum Justiz verfügt über Außenstellen in Karlsruhe und Rottenburg. Die derzeit etwa 260 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen größtenteils aus klassischen Justizberufen. Daneben gibt es aber auch Kolleginnen und Kollegen mit technischer Ausbildung. Im Hinblick darauf bietet das IuK-Fachzentrum seit einigen Jahren auch Studienplätze für Wirtschaftsinformatik bei der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Standort Mannheim, und Ausbildungsplätze zum Fachinformatiker bei der IHK Region Stuttgart an. Erfreulicherweise ist es dabei zuletzt auch gelungen, vermehrt weibliche Auszubildende und Studentinnen für diese technischen Berufe zu gewinnen.

In allen drei Bereichen (Gerichtsabteilung, Verwaltungsabteilung und IUK) arbeiten insgesamt 512 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Stand März 2021).

(weitere Informationen auf www.olg-stuttgart.de und www.mit-recht-in-die-zukunft.de.)

 

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