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17. Familiensenat verpflichtet Mutter nach dem Haager Kindesentführungsabkommen zur Rückführung der von ihr entführten Tochter nach Israel - Der formelle Kriegszustand Israels alleine steht der Rückführung des einjährigen Kindes nicht entgegen

Datum: 28.05.2024

Kurzbeschreibung: 

17. Familiensenat verpflichtet Mutter nach dem Haager Kindesentführungsabkommen zur Rückführung der von ihr entführten Tochter nach Israel Der formelle Kriegszustand Israels alleine steht der Rückführung des einjährigen Kindes nicht entgegen

Mit Beschluss vom 23.05.2024 hat der 17. Familiensenat unter Vorsitz von Vorsitzender Richterin am Oberlandesgericht Kremer die vom Amtsgericht Stuttgart angeordnete Rückführung eines von der Mutter ohne Einverständnis des Vaters nach Deutschland verbrachten einjährigen Mädchens nach Israel bestätigt.

 

Sachverhalt und Entscheidung des Amtsgerichts

Der Antragsteller (Vater) und die Antragsgegnerin (Mutter) sind ehelich miteinander verbunden. In 2023 wurde in Haifa deren Tochter geboren. Die Eltern tragen nach dem Recht des Staates Israel das gemeinsame Sorgerecht. Am 06.02.2024 flog die Antragsgegnerin ohne Kenntnis des Antragstellers mit der gemeinsamen Tochter nach Deutschland. Nachdem der Antragsteller entdeckte, dass die persönlichen Gegenstände und die Kleidung der Tochter und der Antragsgegnerin fehlten, konnte dieser durch eigene Recherche und Einschaltung der Kriminalpolizei den aktuellen Aufenthaltsort seiner Tochter und der Antragsgegnerin in Reutlingen ermitteln.

 

Am 07.02.2024 stellte der Antragsteller bei der Zentralen Behörde in Israel einen Rückführungsantrag nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ).

 

Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, dass der Rückführung des Kindes nach Israel aufgrund des Krieges, einer bestehenden Gefahr von Massakern und Attentaten und einer Tendenz zur weiteren Eskalation des Nahost-Konflikts nach einem Angriff auf das iranische Botschaftsgelände in Syrien ein zwingendes Rückführungshindernis entgegenstehe. Für das Kind bestehe die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens.

 

Mit Beschluss vom 26.03.2024 hat das Amtsgericht Stuttgart die Antragsgegnerin verpflichtet, das Kind binnen zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung nach Israel zurückzuführen.

 

Entscheidung des 17. Familiensenats

Die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragsgegnerin zum Oberlandesgericht Stuttgart hatte keinen Erfolg. Der 17. Familiensenat hat mit Beschluss vom 23.05.2024 die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart zurückgewiesen. Die Entscheidung ist rechtskräftig. Das Kind ist daher binnen zwei Wochen nach Israel zurückzuführen.

 

Nach der Entscheidung des 17. Familiensenats liegen die Voraussetzungen für eine Rückführungsanordnung nach § 12 Absatz 1 HKÜ vor. Die Antragsgegnerin hat die gemeinsame Tochter am 06.02.2024 widerrechtlich nach Deutschland verbracht. Denn die Eltern üben das Sorgerecht gemeinsam aus und der Vater hat der Verbringung nach Deutschland nicht zugestimmt.

 

Zwar ist das Gericht des ersuchten Staates gemäß Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ dann nicht verpflichtet, eine Rückführung anzuordnen, wenn die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist. Diese Bestimmung ist aber restriktiv auszulegen, da der Zweck des HKÜ darin liegt, eine zügige Sorgerechtsentscheidung durch die Gerichte des Staates zu ermöglichen, in dem das Kind sich vor der Entführung aufgehalten hat. Erforderlich ist daher eine besonders erhebliche, ganz konkrete und aktuelle Gefahr für das Kind.

 

Dass sich aus der derzeitigen Sicherheitslage in Israel eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für die gemeinsame Tochter ergeben würde, hat die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Antragsgegnerin nicht nachgewiesen.

 

Die derzeitige Reisewarnung des Auswärtigen Amts für Israel, nach der sich Israel formell im Kriegszustand befindet, führt für sich genommen noch nicht zur Annahme einer schwerwiegenden Gefahr. Vielmehr hat für die Gefahrenprognose eine Gesamtbetrachtung zu erfolgen, in die auch weitere Gesichtspunkte einzubeziehen sind. Danach kann das Vorliegen einer konkreten Gefährdung nicht festgestellt werden.

 

Aus dem National Emergency Portal des israelischen Home Front Command ergibt sich, dass insbesondere in den Bereichen Tel Aviv, Haifa, Ashdod-Gimmel und Netanya – West Versammlungen und Gottesdienste, Bildungsaktivitäten und Arbeitsstätten ohne Einschränkungen abgehalten bzw. genutzt werden können; unter den vier Kategorien dieses Warn- und Informationssystems besteht in diesen und weiteren Bereichen im Zentrum von Israel die niedrigste Stufe „green - full activity“.

 

Zwar werden nach dem Anschlag der Terrororganisation Hamas vom 07.10.2023 und den am 14.04.2024 abgefeuerten mehreren hundert Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen auch weiterhin Angriffe auf israelisches Gebiet sowie Anschläge in Israel verübt. Dass in der Nacht auf den 14.04.2024 die weit überwiegende Zahl der Flugkörper durch ein als „iron dome“ bezeichnetes Abwehrsystem noch außerhalb des israelischen Luftraums abgefangen wurden, belegt aber die Leistungsfähigkeit des Abwehrsystems und hat entscheidende Auswirkungen auf die Sicherheit der in Israel lebenden Menschen.

 

Soweit die Angriffe das subjektive Sicherheitsgefühl der in Israel lebenden Personen beeinträchtigen und zu einer erhöhten Wachsamkeit im Alltag sowie zu Vorsichtsmaßnahmen Anlass geben, ist dies im vorliegenden Zusammenhang der Prüfung einer objektiven Gefährdung für das zurückzuführende Kind zwar nicht völlig unbedeutend, aber letztlich nicht ausschlaggebend. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Sicherheitslage im Staat Israel schon seit langer Zeit angespannt ist und sich beide Elternteile im Jahr 2020 für einen Aufenthalt in Israel entschieden und das Risiko, dort zu leben, als vertretbar angesehen haben. Die vorgenannten einzelnen Anschläge müssen im Ergebnis als punktuelle Vorkommnisse und kriminelle Handlungen einzelner Personen angesehen werden. Dies führt in der Gesamtwürdigung zu der Bewertung, dass es sich dabei nicht um eine konkrete, sondern lediglich um eine abstrakte Gefahr handelt.

 

Einordnung der Entscheidung

Der 17. Familiensenat bewertet die derzeitige Sicherheitslage in Israel damit anders, als diejenige in der Ukraine. Mit Beschluss von 13. Oktober 2022 hatte das Gericht die Rückführung eines entführten zweijährigen Kindes in die Ukraine wegen konkreter Lebensgefahr abgelehnt (Aktenzeichen 17 UH 186/22; siehe Pressemitteilung vom 18. Oktober 2022: hier).

 

Der 17. Familiensenat ist im Bezirk des Oberlandesgerichts Stuttgart für Rechtsmittel und Anträge nach dem HKÜ speziell zuständig. Er entscheidet damit in ganz Württemberg in sämtlichen HKÜ-Verfahren als letzte Instanz.

 

Aktenzeichen

OLG Stuttgart: 17 UF 71/24

AG Stuttgart: 21 F 341/24

 

 


 

Anhang zu den angewendeten Vorschriften des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ)

 

Art. 12 HKÜ [Verpflichtung zur Rückgabe]

(1) Ist ein Kind im Sinn des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.

(…)

 

Art. 13 HKÜ [Ablehnung der Rückgabe]

(1) Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,

(…)

b)daß die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.

(…)

 

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